Die gute Ille

 

Gegen acht kommen die Ersten: makellose Fundamente, rahmig im Körper, Euter mit stabil ausgelegten Böden und hoher Aufhängung. Ihre Besitzer fahren bullige Geländewagen, klapprige Kombis und Traktoren, die ganze Kuhreisegruppen anschleppen. Man sieht Autokennzeichen aus SHA, KÜN, GP, MOS, WN, HN, RT, TBB, BC. Viele Bauern mussten in aller Herrgottsfrüh raus, den Stall machen, dann ab nach Ilshofen. Am Wochenende spielen wieder die Crailsheimer Merlins in der Arena Hohenlohe, aber an diesem Werktag gehört sie der Rinderunion.

„Komm, komm, zrigg, zrigg, zrigg.“ Die Kuh kapiert und stakst im Rückwärtsgang aus dem Hänger mit dem Schild „Vorsicht Turnierpferde“. Ihr Bauer manövriert sie in die Halle zum Euter-Check. Bei einer Entzündung kann sie gleich wieder heimfahren. Nach der Zitzenprüfung verschwindet sie im Nebel des Waschraums, wo dem Gemuhe nach schon ein paar ihrer Kolleginnen abgestrahlt werden. Durch den dichten Dampfvorhang glotzen zwei große, schwarze Augen. Schließlich werden die Tiere an ihren reservierten Plätzen abgestellt wie Moto-Cross-Maschinen im Fahrerlager.

Zuchtauktionen sind Großkampftage für die Rinderunion. Besonders der Aprilmarkt ist ein Highlight. Wer mit Rindviechern zu tun hat, ist da: rotwangige Jungbauern mit Workwear von Engelbert Strauss, verschaffte Altbauern in ausgebeulten Cordhosen und dicken Wollpullovern. Züchter mit breiten Kuhspeichelschlieren auf dem Arbeitsoverall, Bieter im gediegenen Lodenlook. Männer, die wissen, was sie wollen. Man guckt Kühe an, studiert den Katalog, führt Viehgespräche. An einem Verkaufsstand gibt es Schaufeln, Zitzendippmittel, Rechen, Enthorner, Eimer, Eutergel. Dieter Mebus von der Rinderunion ist überall und nirgendwo. Der Vermarktungschef eilt mit Kollegen durch die Halle, um die besten Tiere für die Zuchtempfehlung auszusuchen. Bei einer Buntgescheckten sind sie uneins: „Des isch a geile Kuh“, meint einer. Mebus findet sie zu hessig – „also zu entenfüßig“, erklärt er und ist wieder weg.

Die Nummer 98 kommt nicht in die enge Wahl. „Ille ist halt etwas kurz, das gibt weniger Fleisch beim Schlachten“, sagt ihr Besitzer Thomas Klenk, 47. Sein Milchbauernhof mit 70 Rindern steht in Dörrmenz, einem zwei Kilometer entfernten Dorf. Dort hat die 27 Monate alte Ille vor sechs Wochen zum ersten Mal gekalbt. Abgesehen von ihrer Kürze steht sie top da: die Sprunggelenkswinkelung ein Traum, die Fesseln straff. „Sehen Sie die Kuh da drüben? Die gibt schon in den Fesseln nach. Nicht lange und die läuft auf den Afterklauen.“ Oder Illes Euter: fest und hoch. „Bei manchen Jungkühen hängt es schon jetzt bis übers Sprunggelenk“, sagt Klenk. Wir wird das erst im Alter? „Wenn du dann den Zitzenbecher der Melkmaschine draufstülpst, baumelt des Sammelstück auf dem Boden rum.“ Illes drüsiges Euter zeigt: „da fließt viel Blut durch, da ist viel Milch drin“. Ihre Striche: kerzengerade, wie gemacht für den Melkroboter. „Oder schauen Sie, wie sie im Becken harmoniert, diese schönen Übergänge. Manchen Bauern ist es egal, wie ihre Kuh aussieht, Hauptsache sie funktioniert“, sagt Klenk. „Für mich sollte eine Kuh eine schöne Erscheinung haben.”

Auktionstage sind Familientage bei Klenks. Schon als kleiner Bub durfte Thomas mit, wenn sein Vater auf den Rindermarkt ging. Heute begleitet sein Vater ihn. Klenks Frau ist oft dabei, der Sohn sowieso, und der Enkel kennt sich in der Arena schon fast besser aus als im Kindergarten. „Wenn man die Kinder früh mitnimmt, wollen sie später Bauern werden“, sagt Thomas Klenk. Bei Sohn Marc, 23, hat es sich bewahrheitet. Er ist in den Betrieb eingestiegen. Eine Tochter arbeitet als Laborantin beim Würth, die andere ist Bäckerin – obwohl sie vom Vater lange hören musste: „Im Handwerk und in der Landwirtschaft isch nix verdient.”

Die Käufer sitzen etwas verloren in der großen Arena, die Schilder mit den Bieternummern auf den Schößen. Die Bauern drehen mit ihren Kühen ein paar Runden und vor dem Ausgang noch eine kleine Extraschleife wie auf der Mailänder Fashion Show. Eine Kuh sträubt sich. Eine andere hat es dagegen so eilig, dass ihr Bauer nur noch hinter ihr her stolpern kann, auf dem Sägemehl-Boden ins Rutschen gerät und durch die Arena gezogen wird wie ein Wasserski-Fahrer.

„Nummer 104, eine enorm entwickelte Kuh, eine Typkuh ohne Ende mit richtig starkem Euter, melkstandgewohnt. 1300 Euro. Wer bietet mehr? Komm Karl, sag was!“ Der Auktionator ist in Hochform. Er kennt jeden Züchter, jeden Bieter. Die nächste: „Eine ganz schicke Kuh, vor 14 Tagen abgekalbt, funktioniert in jedem Laufstall.“ Thomas Klenk schaut genau hin. Was kommt raus bei welchen Eltern? Die Zahlen der Rinderunion sind das eine: jedes Tier wird von der Kreuzbeinhöhe bis zum durchschnittlichen Minutengemelk analysiert. Aber Klenk glaubt nur, was er sieht.

Jetzt schreitet Ille in die Arena. Marc führt sie. „Eine absolute Hochleistungskuh, 11 000 Liter, wer sagt 1300 Euro?“ Keiner. Einer würde 1250 geben. Der Auktionator schaut zu Marc. Marc zum Vater. Der macht nur eine kurze Kopfbewegung. „Die muss net um jeden Preis weg“, sagt er leise, „die lass i dahoim mitlaufa.“

Bullen bringen mehr Geld. Aprilmarkt ist Bullenmarkt. Viele Bauern suchen vor Beginn der Weidesaison noch einen Hommel, den sie im Jagsttal, auf der Hohenloher Ebene oder auf Ostalbwiesen zur Herde stellen können. Ein Bulle spürt sofort, wenn eine Kuh rindert und ist immer bereit. Ein Bauer merkt es oft gar nicht oder zu spät. Und bis er dann erst mal einen Bullen rankarrt, ist die Kuh oft schon drübernaus. Mit einem Weidehommel hat der Bauer seine Ruhe.

„Dieses Fundament“, schwärmt der Auktionator, „ein Bulle, wie man ihn schöner nicht machen könnte. Wer bietet 2000? 2100 . . . 2150 . . . 2250 . . . für 2250 an die Nummer 43.” Wenn es um Bullen geht, die an der 3000-Euro-Marke kratzen, wird manchmal sogar am Telefon mitgeboten wie bei Sotheby’s in London. Bei ihnen kommt es nicht auf Größe oder Form der Gehänge an. Hier zählt, was ihre Töchter auf dem Kasten haben: Es gibt „Fitnessvererber“, „Milchmacher“, „Allrounder“. Nummer 67 ist Klenks Jungbulle Willi. Der Auktionator nimmt den Bauern auf die Schippe: „Die Kuh isch z’fett, der Hommel z’mager.“ Willi mag ein kleiner Bulle sein, aber er deckt. „Manche wollen gar keinen so schweren Hommel, wenn eine Kuh das erste Mal belegt wird“, sagt Klenk. Willi zeugt auch keine aufgefleischten 50-Kilo-Großkaliberkälble – was den Müttern die Geburt sehr erleichtert. Er geht schließlich für 1700 Euro weg. Klenk ist zufrieden.

Die Arena leert sich. Die Bauerntruppe zieht weiter in den lauschigen Kleinring, wo die ganz jungen Kühe versteigert werden. Da stehen sie leicht geniert wie in einer Zirkusmanege und lassen sich abschätzen. Der Auktionator hat es wieder mit Karl: „Karl, sag was, dei Rente muss onder d’Leit.“ Viele kaufen jetzt eine Kuh für 700 Euro, stellen sie auf die Weide und verkaufen sie in anderthalb Jahren, wenn sie gekalbt hat, für 1300. Am Ende des Tages kommen die Kälber dran. Die jüngsten sind drei Wochen alt, die allermeisten männlich und nicht sehr vielversprechend für die Zucht. Sie gehen in die Bullenmast, wo ihnen, wenn sie Glück haben, anderthalb Jahre bis zur Schlachtung bleiben.

Willi ist nach seinem Auftritt zurück am Platz. Dass er ins Kochertal verkauft wurde und seinen Heimatstall nie mehr sehen wird, weiß er nicht. Wie es weitergeht, was die Zukunft bringt, darüber machen sich vielleicht die Menschen um ihn herum Gedanken. Er nicht. Er muss jetzt erst mal Wasser saufen. Willi gehört zu den Stillen in der Halle. Seine Nachbarinnen haben mehr zu erzählen. Ihre Muh-Rufe hallen über das Gelände, nach 10 000 Jahren Domestizierung sind sie dem menschlichen Ohr vertraut. Doch je gründlicher man lauscht, desto mehr klingt etwas Wildes und Unbegreifliches in diesen Lauten. Manche Tiere wurden am Morgen geschoren, manchen hängt eine Locke ins Gesicht. Eine große Holstein-Kuh sucht Kontakt, ihr Leib ist warm und weich, in ihrem Blick liegt alle Unschuld, in ihren Augen die ganze Weite dieser Welt.

Willi frisst jetzt Heu und erinnert an einen kaugummikauenden Teenager. „In Gaildorf wird er es gut haben, ein Leben draußen mit jungen Frauen“, sagt Thomas Klenk. Den Käufer kennt er vom Sehen. Dass er seine Rinder an einen Landwirt verkauft, dem das Gefühl für die Tiere fehlt, hat ihm früher manchmal Sorgen bereitet. Inzwischen gebe es solche Bauern eigentlich nicht mehr: „Ohne Freude an der Sache kann es heute keiner mehr schaffen.“ Nur: mit Freude an der Sache ist es auch nicht viel leichter.

Früher gab es Börsen, wo Klenk Milchkontingente anderer Betrieben zukaufen konnte. Seit einem Jahr ist die Quote abgeschafft und der Markt überflutet. Der aktuelle Milchpreis: 26 Cent. „Mag sein, dass wir Bauern immer murren. Aber diesmal ist es wirklich so, dass man davon nicht mehr existieren kann.“ Jetzt bleibe nur eine Hoffnung: am Ende des Bereinigungsprozess unter den Überlebenden sein. Die Klenks investieren kaum noch. Man macht keine großen Sprünge, wenn der Boden unter einem schwankt. „Schon die Schweinebauern ließ man ausbluten, jetzt ist der Rindermarkt dran“, sagt Klenk. Wer schafft es? „Ich glaube, ein schuldenfreier Hof mit 40  Kühen kann einen längeren Atem haben als ein Großbetrieb, der eine Zwei-Millionen-Euro-Halle auf Pump hingestellt hat.“ Nicht jedem gehe es so gut, wie es von außen aussieht. Vielleicht, sagt Klenk, treffe es dieses Mal die Großen zuerst. Aber nur, wenn sie nicht künstlich am Leben gehalten werden. Man hört, dass sich inzwischen kapitalkräftige Industriefirmen aus der Region bei klammen Großbauern einkaufen. Landbesitz ist Gold wert.

Marc Klenk ist „Bauer mit Leib und Seele“, wie er sagt. „Aber die ganze Liebe zum Beruf nutzt ja nichts, wenn er einen nicht ernährt.“ Früher gab es Betriebe, da wurstelte man so vor sich hin und kam irgendwie über die Runden. „Aber heute kann sich am unteren Level keiner mehr lange halten. Da wird noch viel passieren.“

„I han dein Bulla scho eiglada, gell?“ Der Bauer aus Gaildorf verabschiedet sich bei Thomas Klenk. Die Rechnung über 1700 Euro plus Mehrwertsteuer und neun Prozent Gebühren kriegt er zugeschickt. Den Tierpass hat er sich schon im Büro der Rinderunion abgeholt. Willis Flegeljahre sind jetzt vorbei.

Die gute Ille
  1. Section 1