Die Wikinger: Geschichte und Mythos 

Sie waren die Terror-Miliz des Mittelalters und Geißel Europas, die seine Völker in Angst und Schrecken versetzten - die Wikinger. Wie aus dem Nichts tauchten sie im achten Jahrhundert mit ihren wendigen Langschiffen an Küsten und Flussufern auf. Brannten Dörfer nieder, plünderten Klöster, versklavten die Bewohner und raubten, was sie tragen konnten (Titelfoto: obs/Amazon.de GmbH/TM Productions limited/T5 Vikings Productions Inc).

„In unserer westlichen Zivilisation sind die Wikinger nahezu allgegenwärtig“, sagt der Tübinger Mittelalterarchäologe Matthias Toplak. Fast jeder habe eine „mehr oder weniger konkrete Vorstellung davon, wer die Wikinger waren“. Der 35-jährige Mediävist ist Autor und Herausgeber des Buches „Die Wikinger – Entdecker und Eroberer“.

Die wilden Nordmänner umgibt eine geradezu mythische Faszination. Kaum ein historisches Volk ist medial so präsent wie die Wikinger. Die meisten Erzählungen, die im Kino und Fernsehen cineastisch virtuos, tricktechnisch perfekt und mit viel Kunstblut dargeboten werden, sind indes übertrieben, aufgeblasen und historisch falsch. Das machen die fast zwei Dutzend Autoren des 480-Seiten-Buches, das im Herbst 2019 bei Propyläen im Berliner Ullstein-Verlag erschienen ist, deutlich.

Am 4. Dezember geht die finale sechste Staffel der kanadisch-irischen Erfolgsserie in den USA beim „History Channel“ an den Start. Bereits am 5. Dezember wird eine Doppelfolge von Season 6 auf Amazon Prime auch in Deutschland ausgestrahlt. Im wöchentlichen Turnus folgt je eine weitere Folge. Die letzten zehn von 20 Folgen werden im Verlauf des nächsten Jahres veröffentlicht.

Die Wahrheit hinter den Legenden

Die TV-Serie „Vikings“ markiert den Höhepunkt des Nordmänner-Hypes. Das blutgetränkte Schicksal des sagenumwobenen Wikinger-Anführers Ragnar Lodbrok, der Schildmaid Lagertha und der Brüder Björn und Ivar ist fesselndes Popcorn-Kino (Titelfoto: Wikipedia commons/Funeral of a Viking/Gemälde von Franz Bernard Dicksee 1893).

Doch waren die echten Wikinger wirklich so? Met saufende Berserker, Krieger mit Hörnern auf den Helmen und dicken Fellen behangen? „Nein, das ist absoluter Unfug, der erst durch die Nationalromantik des 19. Jahrhundert entstand und dann von Hollywood aufgegriffen wurde“, sagt der Tübinger Archäologe Matthias Toplak. „In all diesen Filmen wird der edle Wilde mit nacktem Oberkörper, seltsamen Frisuren und schwarzem Leder thematisiert. Das ist sexy. Aber es stimmt überhaupt nicht mit dem überein, was wir archäologisch fassen können.“

Das Zeitalter der Wikinger

Die Periode der europäischen Geschichte, die Wikingerzeit genannt wird, reicht vom Ende des achten bis zur Mitte des elften Jahrhunderts. Seit dem 19. Jahrhundert wird in der Geschichtsschreibung der Überfall auf das nordostenglische Kloster Lindisfarne im Jahr 793 als Beginn dieser Epoche angesehen. Doch bereits 50 Jahre zuvor, im Jahr 742, wurde Burghead Fort, eine piktische Siedlung auf einer Halbinsel im Nordosten von Moray in Schottland, von Nordmännern überfallen.

Gemeinsam mit der Schlacht von Stamford Bridge markiert die Zerstörung der Wikinger-Siedlung Haithabu durch slawische Krieger – beide im Jahr 1066 – das Ende der Wikingerzeit. Diese Schlacht fand am 25. September rund elf Kilometer östlich der englischen Stadt York statt. Als Gegner standen sich der englische König Harald II. (Harald Godwinson) und der norwegische König Harald III. gegenüber.

Harald II. siegte und zog in Eilmärschen nach Süden. Dort unterlag seine geschwächte Streitmacht am 14. Oktober 1066 bei Hastings dem normannischen Invasionsheer unter Wilhelm dem Eroberer.

Die Wikinger kamen nicht bis in den Südwesten

Die Wikinger waren zügellose Gewalttäter. „Sie waren stellenweise brachiale Barbaren, die mit der Axt auf alles einschlugen, was ihnen in den Weg kam“, erläutert Matthias Toplak. „Das ist aber nur ein Teil der historischen Realität. Gleichzeitig hatten sie Kontakte mit sehr vielen anderen Kulturen.“

Nur ein Flecken blieb während des Mittelalters eine notorisch Wikinger-freie Zone – das heutige Baden-Württemberg. Das hatte vor allem logistische Gründe, wie Toplak erklärt. Die Seefahrer aus dem Norden seien über die großen Flüsse wie Themse, Rhein, Elbe und Seine weit ins Landesinnere vorgedrungen. Das war für sie mit enormen Gefahren verbunden gewesen. „Die Flüsse konnten kontrolliert werden. Die Wikinger konnten nicht an den Ufern lagern, weil sie angegriffen werden konnten. Das ist einer der Gründe, warum wir keine direkte Präsenz von Wikingern im Südwesten haben.“

Der fränkische Herrscher Karl der Kahle ließ im neunten Jahrhundert Steinbrücken erbauen, um die Durchfahrt der Wikingerschiffe zu verhindern. Das wurde von den Nordmännern dadurch unterlaufen, dass eine eingeübte Schiffsmannschaft den Mast relativ schnell umlegen konnte.

Einfluss der Staufer

Erst im Nachhinein ist es über das Erbe der Nordmänner zu einer Verbindung der Kulturen gekommen. Baden-Württemberg war, so Toplak, über die Staufer-Dynastie eng mit Sizilien verbunden, wo es ein normannisches Reich skandinavischstämmiger Herrscher gab. Das war allerdings über 100 Jahre nach der großen Zeit der Wikinger, die gegen Ende des elften Jahrhunderts vorbei war.  

In England hingegen lassen sich durch die Eroberung weiter Regionen durch vornehmlich dänische Wikinger (das sogenannte Danelag) bereits vor der Invasion durch die Normannen nordische Einflüsse fassen.
Doch auch wenn die Wikinger nicht weiter als Köln, Trier und Mainz segelten, reichte ihr kaufmännischer Einfluss bis an den Bodensee – allerdings mehr indirekt etwa über den Weinhandel. Ob dieser Handel tatsächlich auch die großen Klöster in Süddeutschland – etwa auf der Insel Reichenau, wo der Wein angebaut wurde – erreichte, sei nicht sicher belegt, betont der Tübinger Wissenschaftler.

Erfolgreiche Händler

Die Wikinger hatten vor allem Rohmaterialien wie Speckstein, Schiefer für Wetzsteine, Felle und Geweihe anzubieten. Ganz besonders begehrt war Walrosselfenbein. Bis zu den Kreuzzügen war es die einzige Quelle für Elfenbeinschnitzereien. Alles, was vor dem 11. und 12. Jahrhundert aus Elfenbein hergestellt wurde, stammte von Rohmaterial aus dem Nordatlantik. Dazu kommt eine weitere wertvolle Ware – Sklaven.

Archäologische Funde in der Wikinger-Siedlung Haithabu an der Schlei-Mündung in Schleswig-Holstein zeugen von Handelsbeziehungen in den Südwesten. In dem 770 gegründeten Handelsplatz wurden große Fässer aus Tannenholz gefunden, die wahrscheinlich für den Weintransport genutzt worden seien. Toplak: „Aufgrund von Holzanalysen kann man die Fässer Süddeutschland zuordnen. Möglicherweise wurden sie in den großen Klöstern gefertigt und von dort nach Norden verhandelt.“

Um den Handel mit anderen Regionen in Europa zu forcieren, gründeten die Wikinger befestigte Handelsplätze. In Haithabu lebten bis zu 1000 Menschen. Der Ort wurde als regionaler Handelsplatz gegründet und später königlicher Gewalt unterstellt. Der dänische Wikinger-König Göttrik (Gudfred) beschloss 808, den frühmittelalterlichen slawisch-dänischen Handelsplatz Reric zu räumen. Alle Handwerker mussten nach Haithabu übersiedeln.

Haithabu

Owohl ein neun Meter hoher Wall mit Palisade die Handelsstadt umgab, wurde sie im Jahr 1050 in einer Schlacht zwischen Harald III. Hardrada von Norwegen und Sweyn II. zerstört. Haithabu wurde danach nur teilweise wiederaufgebaut und 1066 von Slawen geplündert, gebrandschatzt und endgültig aufgegeben.

Birka

Ein anderes urbanes Zentrum war Birka, der wichtigste Handelshotspot in Skandinavien. Vom 8. bis Ende des 10. Jahrhunderts war der rund 50 Kilometer westlich von Stockholm gelegene Ort eine mächtige Handelssiedlung mit über 3000 Grabhügeln und einer Bevölkerung von rund 1000 Menschen. Von dort gab es enge Handelskontakte nach Byzanz, in die arabischen Kalifate, ins Frankenreich. Und mit Sicherheit gab es einen König, eine aristokratische Schicht und zahlreiche Krieger.

Krieger und Kaufleute

Die Wikinger als Eroberer und Entdecker

Mit ihren Drachenschiffen befuhren die Wikinger alle damals bekannten und unbekannten Meere. Sie dienten als Söldner – wie am Hof des oströmischen Kaisers. Auf Sizilien und in der Normandie errichteten sie mächtige Herrschaften. Lange vor der Schlacht von Hastings zwischen Normannen und Angelsachsen 1066 eroberten sie große Teile Englands (Titelfoto: Wikipedia commons/Ziko van Dijk CC BY-SA 4.0).  

Wikinger besiedelten Island und Grönland. Ende des zehnten Jahrhunderts erreichte Leif Eriksson Vinland und betrat als erster Europäer amerikanischen Boden – 500 Jahre vor Kolumbus. Bis nach Russland und in die arabischen Kalifate reichten die Handelsrouten der Nordmänner.  

Drachenschiffe am Horizont

Wenn die Segel der Drachenschiffe am Horizont auftauchten, blieb den Menschen nur wenig Zeit. Mit Äxten, Schwertern und Speeren bewaffnet sprangen die Nordmänner aus ihren schmalen Schiffen aus Eichenholz – 30, 40 Krieger pro Langschiff. Im Fall der 37 Meter langen Roskilde 6, das größte bislang gefundene Wikingerschiff, waren es sogar rund 100 Männer.

Ihre Schnelligkeit war das Erfolgsgeheimnis der Wikinger, erläutert der Berliner Mittelalterarchäologie Matthias Wemhoff, Direktor des Berliner Museums für Vor- und Frühgeschichte. „Wenn man die Segel sah, konnte man nur noch weglaufen. Zwischen zwölf und 14 Knoten schafften die 78 Ruderer der Roskilde 6 bei günstigem Wind.“

Vom 9. bis zum 11. Jahrhundert dominierten die skandinavischen Seefahrer den Nord- und Ostseeraum. Während die Wikinger mit ihren Langschiffen in den Krieg zogen, wurden die dickbauchigen Boote für Handelsfahrten eingesetzt. Gehandelt wurde mit Walross-Elfenbein, Fellen, Stoffen, Gewürzen von der Seidenstraße, Wein, Metall, Wachs, Fisch und Honig.

Hochseeschiffe – Schlüssel zum Erfolg

Die Roskilde 6 war ein prächtiges Königsschiff – reich bemalt, mit goldenen Beschlägen, Fahnen und Wimpeln. Das Schiff wurde 1997 im Hafen der dänischen Stadt Roskilde entdeckt, danach jahrelang konserviert und restauriert. Größter Feind des uralten Holzes war das Wasser, wie Wemhoff erklärt. Um das aus rund 200 Einzelteilen bestehende Schiff zu retten, wurde den Holzplanken das Wasser entzogen und durch eine Wachslösung ersetzt. Anschließend wurden die Bootsteile gefriergetrocknet.

„Die Boote waren der Schlüssel zum Erfolg der Wikinger“, sagt Wemhoff. Mit ihnen wurden die Wikinger zum Schrecken der Meere und zu erfolgreichen Händlern. Ein Schiff wie die Roskilde 6 entstand in rund 240. 000 Arbeitsstunden. Zahlreiche Arbeiter und Handwerksexperten waren beteiligt - vom Fällen der Bäume bis zum Fertigen der Eisennägel und Eisenringe zum Befestigen der Taue.

Wie man sich die Raubzüge der Wikinger vorstellen muss, beschreibt Matthias Toplak: „Die ersten Kriegszüge in England wurden von einer kleinen dreistelligen Zahl an Kriegern durchgeführt. Die Wikinger versuchten gerade in England offene Feldschlachten zu vermeiden, weil sie es sich nicht erlauben konnten, Männer zu verlieren. Wenn bei einer Schiffsbesatzung zehn Prozent tot waren, konnte das Schiff im schlimmsten Fall nicht mehr zurückgerudert werden.“

Die Standardbewaffnung war die Axt – eine Mischung aus Arbeitsbeil und Kriegsaxt. Auch Speere und Schilde waren weit verbreitet. „Diese Waffen wird jeder Mann besessen haben, weil es Arbeitswerkzeuge waren. Man braucht sie auf dem Hof, um Feuerholz zu hacken, das Haus in Schuss zu halten und um jagen zu gehen.“  

Schwerter waren teuer und schwer herzustellen. Man benötigte Rohmaterial, das technische Knowhow und eine größere Schmiede. Klingenwaffen stellten die Wikinger wahrscheinlich nicht selbst her. Das Eisenerz aus Skandinavien war Toplak zufolge qualitativ nicht ausreichend gewesen. Die Schwerter stammten zum Großteil aus fränkischer Produktion.

Auf Raubzug

Zu Beginn der Wikinger-Expansion sind vermutlich nur zwei, drei Schiffe eingesetzt worden. 50, 60 Krieger reichten für den Überfall auf ein wehrloses Kloster wie Lindisfarne völlig aus. Die Wikinger konnten mit ihren Schiffen auf die Sandstrände auffahren und runterspringen – in der Sprache der Wikinger hieß dies ‚Strandhögg‘ (‚Strandschlag‘). Bevor die Gegenwehr organisiert war, waren sie auch schon wieder weg.

Woher rekrutierten sich die Schiffsbesatzungen? Toplak: „Es gab vermutlich lokale Anführer, die ein Schiff besaßen. Sie holten die Besatzungen aus den umliegenden Dörfern. Man zog los, plünderte dort, wo man militärisch überlegen war. Wenn das nicht der Fall war, verlegte man sich auf friedlichen Handel.“

Interview mit dem Tübinger Mediävisten Matthias Toplak

Herr Toplak, Wikinger gehören zu den frühesten Filmhelden. Was haben die Nordmänner aus dem Kino mit den echten Wikingern zu tun?

In all diesen Filmen wird der edle Wilde mit nacktem Oberkörper, seltsamen Frisuren und schwarzem Leder thematisiert (Titelfoto: Das Gokstad-Schiff ist ein Wikingerschiff aus den späten 800er Jahren. Es ist Norwegens größtes erhaltenes Wikingerschiff und wird im Wikingerschiffshaus in Bygdøy in Oslo ausgestellt. Foto: Wikipedia commons/Karamell/CC BY-SA 2.5).

Was für die Zuschauer supersexy ist und zum Teil den Hype um die Nordmänner ausmacht.

Genau, das ist sexy. Aber es stimmt überhaupt nicht mit dem überein, was wir archäologisch fassen können.

Gilt das auch fürs Met, das Lieblingsgetränk der Nordmänner?

Zum Thema Alkoholkonsum ist zu sagen: Es war damals schwer, nicht nur für Wikinger, an Alkohol zu gelangen. Man kann Bier brauen – das kann man auf dem Bauernhof machen, aber es ist nicht lange haltbar. Die Wikinger hatten gar nicht den Alkoholvorrat, wie in Spielfilmen immer gerne unterstellt wird.

Es gab also keine Massenbesäufnisse?

Es gab Met. Die Wikinger importierten aber auch Wein aus dem Frankenreich – ein absolutes Luxusgut. Der dänische Häuptling Godefrid sollte 885 von Karl III. mit einem Lehen im Frankenreich belohnt werden. Godefrid beschwert sich jedoch nach kurzer Zeit beim Kaiser darüber, dass in seinem neuen Lehen kein Weinanbau möglich sei, er hätte gerne ein neues. Es ging ihm also überhaupt nicht um eine militärisch strategische Position oder Anschluss an Handelsrouten, sondern primär um direkten Zugriff auf den Wein.

Sie machen wirklich alle Klischees zunichte.

Aber so war es. Die Wikinger hatten gar nicht den Alkoholvorrat, um sich jeden Tag zu betrinken.

Als Buchautor profitieren aber auch Sie vom „Vikings“-Boom.

Ich finde das archäologische Forschungsbild sehr viel spannender als das wahnsinnig plakative eindimensionale Bild, das Wikinger-Filme in aller Regel zeichnen.

Kamen die Wikinger nur, um zu plündern?

Das muss man differenzieren. Es gab verschiedene Expansionsrichtungen: Zum einen wurde der Atlantik hauptsächlich von Norwegern kolonisiert. Hier haben wir den Entdeckeraspekt. Im Süden, in Dänemark, gab es eine militante Expansionspolitik mit Waffengewalt.

Sie spielen auf den berühmten Überfall auf das ostenglische Kloster Lindisfarne 791 an.

Das ist das Datum, welches immer wieder mit der Wikingerzeit in Verbindung gebracht wird. Dahinter standen wahrscheinlich dänische Wikinger. Die Recherche ist allerdings schwierig, weil die lateinischen Quellen nicht zwischen den einzelnen Wikingergruppen differenzieren.

Woher stammten die Wikinger, die gegen Ende des 10. Jahrhunderts unter Leif Erikson Amerika entdeckten?

Aus Norwegen. Leifs Eriksons Vater, Erik der Rote, muss ein sehr unangenehmer Zeitgenosse gewesen sein. Er wurde wegen Totschlags aus Norwegen verbannt und ging nach Island. Dort wurde Erik der Rote wieder wegen Totschlags verbannt. In der Verbannung entdeckte er Grönland und und kolonisierte die Insel später . Sein Sohn Leif segelte später nach Neufundland und betrat als erster Europäer amerikanischen Boden.

War der Bevölkerungsdruck eine Ursache für die Expansion?

Das ist ein möglicher Aspekt, warum es überhaupt zu diesen Eroberungszügen gekommen ist. Es gab bei den Wikingern die sogenannte Primogenitur: Der älteste Sohn erbte alles, die jüngeren Söhne gingen leer aus und mussten anderweitig für sich sorgen. Fakt ist: Wir haben überhaupt keine Ahnung, wie groß die Wikinger-Bevölkerung tatsächlich gewesen ist.  

Wie konnten sie dann mit einer gewaltigen Flotte von 200, 300 Drachenschiffen Paris belagern?

Die Zahl der Drachenschiffe ist nur aus den historischen Quellen der Personen überliefert, die angegriffen wurden. Wir können also davon ausgehen, dass die Zahlen massiv übertrieben worden sind. Das große dänische Heer, das 885/886 vor Paris lag, wird wahrscheinlich eine vierstellige Anzahl von Kriegern umfasst haben. Darunter waren Dänen, Norweger und vielleicht auch Iren, die sich dem Feldzug angeschlossen hatten.

Wie liefen Wikinger-Raubzüge ab?

Die ersten Kriegszüge in England wurden von einer kleinen dreistelligen Zahl an Kriegern durchgeführt. Die Wikinger versuchten gerade in England offene Feldschlachten zu vermeiden, weil sie es sich nicht erlauben konnten, Männer zu verlieren. Wenn bei einer Schiffsbesatzung zehn Prozent tot waren, konnte das Schiff im schlimmsten Fall nicht mehr zurückgerudert werden.

Zur Person: Matthias Toplak

1984 geboren in Oberhausen.

Studium der Skandinavistik, Ur- und Frühgeschichte sowie der Mittleren und Neuen Geschichte an den Universitäten Köln, Stockholm und Tübingen; dort Promotion in Mittelalterarchäologie.

Derzeit ist er Wissenschaftler am Institut für Ur- und Frühgeschichte und Archäologie des Mittelalters der Eberhard-Karls-Universität mit Schwerpunkt auf der skandinavischen Wikingerzeit.

Nordische Mythologie

Edda

In Marvel-Fantasyfilmen wie „Thor“ spielt der Glaube der Nordmänner eine wichtige Rolle. Thor wird als wilder, aufbrausender Gott geschildert, der von seinem Vater Odin, der obersten Gottheit immer wieder im Zaun gehalten werden muss. Die Quelle für all diese Geschichten ist die Edda (Titelfoto: Wikipedia commons/Ein in der Schlacht gefallener Krieger kniet vor Odin in Walhall).

„Das, was wir als Edda bezeichnen, sind in altisländischer Sprache verfasste, im christianisierten Island niedergeschriebene Werke aus dem 13. Jahrhundert, die skandinavische Götter- und Heldensagen beinhalten, erläutert Matthias Toplak. „ Die Wikinger hatten keine Schriftkultur, wie wir sie aus dem Abendland kennen. Die Runen wurden für kultisch-magische Zwecke oder kurze Gedenkinschriften verwendet. Es wurde alles mündlich tradiert.“

Viele dieser Mythen stammen aus der Wikingerzeit. Einige können die Archäologen belegen, wie die Vorstellung von Walhalla als Kriegerparadies und Thor mit seinem Hammer Mjölnir. Bei anderen ist unsicher, ob sie tatsächlich aus der Wikingerzeit stammt.

Skalden

Eine weitere wichtige Quelle für die nordische Mythologie sind die Skalden, höfische Dichtungen aus Norwegen und Island. Matthias Toplak: „Wir haben Skalden-Verse aus dem neunten, zehnten Jahr

hundert, die original überliefert sind. Aufgrund der festen Formen für die Metrik kann man davon ausgehen, dass an den Versen nichts verändert wurde.“

Nach Aussage Toplaks waren die Wikinger keine überzeugten Heiden, die das Christentum kategorisch ablehnten und bekämpften. Der altnordische Glaube sei keine festgeschriebene dogmatische Religion gewesen. Es habe kein heiliges Buch wie die Bibel oder den Koran gegeben, sondern einen offenen Glauben mit mehreren Göttern. „Es war offensichtlich leicht Jesus Christus in das Götterpantheon aufzunehmen.“

Sonne, Mond und Wölfe

In der nordischen Mythologie sind Sonnen – und Mondfinsternis Zeichen dafür, dass sich etwas Übles zusammenbraut. Hati und Skalli spielen dabei eine Schlüsselrolle. Die beiden Zwillingsbrüder sind riesige Wölfe, die vom Fenriswolf und der Riesin Gyge abstammen. Hati verfolgt den Mondgott Mani, während Skalli der Sonnengöttin Sól nachstellt.

Sól rast mit ihrem Sonnenwagen übers Himmelzelt, der den Rossen Arvakr (Frühwache) und Alsvidr (Allgeschwinde) gezogen wird. Ihr Schutzschild Swalin schützt sie vor der Hitze des Gestirns. Während der Verfolgung treibt Sól ihre Pferde zur Eile an. Dabei kommt sie der Sonne gefährlich nahe.  

Am Tag des Weltunterganges –Ragnarök – werden die beiden Wölfe die Gejagten einholen, packen und zerreißen. Der Mond wird verschlungen, das verspritzte Blut wird die Sonne verdunkeln. Aus der untergehenden Götterwelt der Aasen wird eine neue Welt entstehen.

Eroberung und Expansion

Britannien – das erste Opfer der Nordmänner

Die Wikinger beherrschten damals Ost- und Nordsee, den Ärmelkanal sowie die französische Atlantikküste. Alljährlich im Frühling gingen sie auf Raubfahrt. Sie plünderten die Küstenstädte und drangen, den Wasserläufen stromaufwärts folgend, mit ihren Booten tief ins Landesinnere vor (Titelfoto: Normannische Wikinger greifen an, Buchillustration aus dem Mittelalter, Wikipedia commons).

Norwegische und später auch dänische Wikinger, Normannen genannt, machten sich weite Teile Englands untertan, gründeten in der Normandie ein Herzogtum und unter Robert Guiscard in Unteritalien und auf Sizilien das Normannenreich. Es entwickelte sich in kurzer Zeit zu einem der kultiviertesten und reichsten Staatswesen des Abendlandes.  

Vor mehr als 1200 Jahren landete ein Trupp Wikinger an der Nordostküste Englands. Er plünderte und zerstörte das Kloster Lindisfarne. Dieser Beutezug markiert den offiziellen Beginn von fast 300 Jahren Angst und Schrecken in Europa. Der Aufbruch der Skandinavier kam, wie der englische Historiker Arnold Toynbee schrieb, „plötzlich, unerwartet und heftig“.  

Nach seinem Urteil war der Sieg Karls des Großen über die Sachsen Ende des 8. Jahrhunderts das auslösende Moment. Nachdem die Sachsen, deren Siedlungsgebiete zwischen denen der christlichen Franken und der heidnischen Wikinger lag, die Taufe angenommen hatte, dehnte sich die Einflusssphäre der Christenheit nach Norden aus.  

Die Wikinger sahen sich mit einer neuen Kultur konfrontiert, die ihren Horizont schlagartig erweiterte. Ihre Träume von Eroberung, reicher Beute und Abenteuer wurden beflügelt und nahmen Gestalt an. Ihre überlegenen, seetüchtigen Schiffe, besetzt mit kampferprobten Kriegern, gaben ihnen das Mittel und die Möglichkeit, sie zu verwirklichen.

Island, Grönland, Vinland – neue Heimat

Weder befestigte noch unbefestigte Ansiedlungen waren vor ihnen sicher. Sie äscherten die Siedlungen ein, führten Gefangene als Sklaven fort und erpressten Lösegelder. Hatten sich die gebrandschatzten Landstriche nach einiger Zeit wirtschaftlich erholt, drohte ihnen die erneute Heimsuchung.

In späteren Jahrzehnten dehnten sie ihre Fahrten bis nach Asturien und Portugal aus. Sie segelten ins Mittelmeer und statteten den Balearen, der Provence und Toskana gewalttätige Besuche ab. Im Norden gelang es den norwegischen Wikingern allmählich ihr Siedlungsgebiet auszudehnen. Sie besetzten die Orkney- und die Shetland-Inseln, die Färöer, die Hebriden und Irland, Island, Grönland und schließlich Vinland, das heute Nordamerika genannt wird.

Normannische Herrschaft in Sizilien

Durch Heirat und Erbfolge gelangte das sizilianische Normannenreich an die Staufer. Deren glanzvollster Herrscher, Kaiser Friedrich II., Enkel von Kaiser Friedrich Barbarossa und der letzten normannischen Regentin Konstanze, fasste die zahlreichen Künstler und Gelehrten in Sizilien noch einmal zusammen. Diese Hoch- und Endphase höfischer Kultur markiert die Überwindung des Mittelalters und gilt zugleich als erstes Wetterleuchten der Renaissance.

Durch Russland bis in den Orient

Im Osten, wo die Wikinger Waräger oder Rus genannt wurden, ging es pragmatischer zu. Dort knüpften die Nordmänner ein weitgespanntes Handelsnetz. Sie stießen in entfernte Regionen vor, traten auf den Märkten des Orients auf und handelten Pelze, Sklaven und Edelmetalle aus Westturkestan und Afghanistan ein.

Am Wege dorthin wurden Tribut-Herrschaften errichtet, die der Waräger-Führer Rurik unter sein Regiment zwang und Oleg der Weise zum Reich von Kiew vereinigte, womit das Russische Reich erstmals Gestalt annahm.

Die Erschließung und Kontrolle der Transportwege entlang der Wolga zur arabischen Welt und entlang des Dnjepr nach Byzanz verschoben die Gewichte des mittelalterlichen Welthandels zugunsten der Wikinger. Alte Handelslinien kamen zum Erliegen, da die neuen Transitrouten in den Orient kürzer und sicherer waren.

Die Gesellschaft der Wikinger

Rolle der Frau

In „Vikings“ ist die schöne und mutige Schildmaid Lagertha die wichtigste private und militärische Stütze von Ragnar Lodbrok. War das wirklich so? „Glauben Sie nicht alles, was das Fernsehen und Kino zeigt. „Generell war der Einfluss der Frauen bei den Wikingern höher als in anderen zeitgenössischen Gesellschaften“, sagt Wikinger-Experte Matthias Toplak. Das betrifft aber nur die Oberschicht und die freien Frauen. Mägde und Sklavinnen waren rechtlos (Titelfoto: Darstellung Lathgerthas in einer Lithografie von Morris Meredith Williams, 1913).

Die Rolle der Frau war sehr bedeutend. Weil die Männer oft monatelang fort  waren, waren die Frauen ungeheuer mächtig. Sie   wussten auch nicht, ob ihre Männer heil zurückkehrten. So  gab es viele von Frauen geführte Höfe.

Emanzipation und Männerherrschaft

Wie sah es mit ihrem  politischen Einfluss aus? „Das Reden bei politischen Veranstaltungen war ihnen verboten“, erläutert Toplak. „Über ihre Männer, Brüder oder Söhne konnten sie aber massiven Einfluss ausüben. Reichen und mächtigen Frauen wird man in Einzelfällen aber wohl durchaus erlaubt haben, bei offiziellen Veranstaltungen zu reden.“

Nach heutigem Forschungsstand durften sich Frauen beim Thing, den Volks- und Gerichtsversammlungen, nicht äußern. Ihre Machtsphäre lag im Haus, sie waren die Hausherrin. Es gibt eine Vielzahl von Gräbern, in denen kleine Schlüssel gefunden wurden, die möglicherweise die Schlüsselgewalt der Frauen symbolisierten.

Prinzipiell hatten Frauen das Recht sich scheiden zu lassen, was für den Mann ein finanzielles Desaster bedeutete. Er musste die Hälfte seines Besitzes und die Mitgift abtreten. Aus Runenstein-Inschriften aus dem elften Jahrhundert ist bekannt, dass verwitwete oder geschiedene Frauen alleine geschäftsfähig waren. Sie brauchten nicht zwangsläufig Männer, um in der Gesellschaft weiter zu existieren.

Das Frauengrab von Birka

In „Vikings“ sind  Frauen  Königinnen, Beraterinnen und Anführerinnen. Es gibt sogar eine Amazonen-Elitetruppe. „Mit der Realität hat das nichts zu tun“, betont Toplak.

In Birka wurde 1878 ein Skelett gefunden, das mit Waffen, zwei Pferden und reichen Grabinsignien ausgestattet war. „Weil der Leichnam männliche Kleidung trug und mit Waffen bestattet war, ging man davon aus, dass es sich um einen lokalen Herrscher handelte. Neuere Untersuchungen haben allerdings gezeigt, dass es eine Frau war, die als hochrangiger Krieger beigesetzt wurde.“

Kämpften Frauen auch an der Seite der Männer? „Vermutlich nicht“, sagt Toplak. „Im Knochenmaterial sind keine Verletzungen zu finden. Sie hat also nicht tatsächlich mitgekämpft. Entweder war sie ein Heerführer oder sie hatte eine mächtige Position, die durch diese Waffen dargestellt werden sollte.“

Unfreie und Sklaven

Sklaverei war bei den Wikingern ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. In England beispielsweise gab es im neunten, zehnten Jahrhundert rund 20 Prozent Sklaven. In Skandinavien dürften es weniger gewesen sein. Die Wikinger betrachteten Sklaven hauptsächlich als Handelsware, die nach Russland, Arabien und den fernen Osten verkauft wurden.

Unter den Sklaven befanden sich  auch   Blutsverwandte. Der spätere norwegische König Olaf beispielsweise wurde von anderen Wikingern als Sklave gehalten.

Die Wikinger: Geschichte und Mythos 
  1. Wilde Krieger aus dem Norden
  2. Die Wahrheit hinter den Legenden
  3. Krieger und Kaufleute
  4. Interview mit dem Tübinger Mediävisten Matthias Toplak
  5. Nordische Mythologie
  6. Eroberung und Expansion
  7. Die Gesellschaft der Wikinger