Geisterhafte Kachelkunst in Stuttgart

Das Künstlerduo Harry Gelb spachtelt in Stuttgart und anderen Städten kunstvolle Kacheln an Hauswände - anonym und im Schutz der Dunkelheit.  Ein Stuttgarter hilft uns, die Geister zum Sprechen zu bringen.

Es ist sehr gut möglich, dass Sie, liebe Leserinnen und Leser, schon zigfach an den Kunstwerken, um die es hier geht, vorbeispaziert sind. Bemerkt haben Sie sie wahrscheinlich nicht. Die Rede ist von Kacheln an Stuttgarter Hauswänden, aufgehängt von dem Künstlerduo Harry Gelb.

“Ghosts” nennen die Künstler ihre kleinen Wandkunstwerke. 126 davon haben sie bis jetzt an Stuttgarter Hausfassaden geklebt. Davon hängen zwar noch gut 70. Aber auch die stechen nur Kennern ins Auge.

Also jemandem wie Ivan Papic.

Treffpunkt in der Böheimstraße 10b, gegenüber vom “Joker Club”. Der Marienplatz ist in Sichtweite, aber gefühlt ist die zum Hipstertreff avancierte Betonplatte Welten entfernt. Der Verkehr donnert hier fast noch so wie zu Zeiten, in denen es den Heslacher Tunnel noch nicht gab. Die Fassaden sind feinstaubgrau - kein Ort, an dem man weltläufige Kunst in Kachelform erwartet.

Kachel 72 zeigt drei dunkelhäutige Kinder beim Spielen auf der Straße. Sie war vor drei Jahren die erste, die Ivan Papic entdeckt hat - und die Initialzündung für eine Entdeckungsreise in die eigene Stadt. Geisterhaft in ihrer Erscheinung, plötzlich da, entlang des Weges an einer ziemlich hässlichen Ecke der Stadt.

Ivan Papic erzählt, wie er als Sohn bosnischer Einwanderer in beengten Verhältnissen aufgewachsen ist, im Heslacher “Eierghetto”. Ein Schlüsselkind, auf der Straße zu Hause, später Basketballer und tief drin in der Stuttgarter Hip-Hop-Szene. Ein Spätstarter auch, der heute dank IT-Job mit Frau und Kindern im Eigentum lebt und nicht mehr notgedrungen auf Stuttgarts Straßen unterwegs ist, sondern zum Spaß - mit der Kamera, auf der Jagd nach Straßenkunst im Allgemeinen und Harry-Gelb-Kacheln im Besonderen.

Siehst du eine, siehst du alle

Wie Ivan Papic das Rätsel um die Geisterkacheln gelöst hat.

Papic hatte zunächst keine Ahnung, was es mit der Kachel in der Böheimstraße 10b auf sich hat. Der 42-Jährige veröffentlichte ein Foto davon im Online-Bildernetzwerk Instagram - und kam prompt mit Stuttgarter Harry-Gelb-Fans ins Gespräch.

Wie ein Puzzle trug Papic Informationsfetzen zusammen: dass es sich bei Harry Gelb um ein Duo handelt, das sich nach einer Romanfigur von Jörg Fauser benannt hat. Dass die beiden Künstler ihre Kacheln in ganz Europa und sogar in Argentinien und Uruguay an Wände spachteln. Dass sie die Kacheln auch als “Ghosts” bezeichnen, als vergängliche, aus dem Nichts auftauchende Geister.

Dass nirgendwo mehr Kacheln hängen als in Stuttgart.

126 Kacheln haben die beiden Künstler alias Harry Gelb in Stuttgart aufgehängt. In Berlin sind es 100, in Paris 43, in Istanbul 40 und so weiter. Die Nummerierung ist chronologisch und bildet die Reisen der Künstler ab. Deshalb hängt in Stuttgart sowohl die Kachel mit der Nummer 19 als auch jene mit der Nummer 476, während man in Istanbul unter anderem Nummer 478 findet.

Insgesamt haben Harry Gelb knapp 600 Kacheln in die Welt gesetzt - durchweg im Polaroid-Format, mit einem eingebrannten Stück Straßenfotografie in der Mitte, darunter die dürre Signatur samt Seriennummer. Dank Zwei-Komponenten-Kleber bleiben die Kacheln jahrelang hängen - wenn sie niemand abschlägt.

Nach seinem ersten Kachelfund in der Böheimstraße ging Ivan Papic auf die Suche. Stundenlang, bei jedem Wetter und oftmals musste er auf die nächste Kachel länger warten als der VfB auf einen Bundesliga-Sieg. “Diese Kunst ist null aufdringlich”, findet Papic. “Es ist doch cool, eine Kachel selbst zu entdecken. Und wenn ich keinen Harry Gelb finde, dann finde ich eben andere Street Art.”

Für die Kacheln kann man einen Blick entwickeln. “Siehst du eine, siehst du alle”, sagt Ivan Papic, “komm, wir machen einen Spaziergang”. Von seiner ersten Kachel in der Böheimstraße huschen wir am Theater Rampe entlang, wo etwas über Kopfhöhe eine Kachel hängt. Es geht die Liststaffel hoch (zwei Kacheln), dann weiter die Liststraße entlang, wo im Zickzackmuster sechs Stück an Ladenfassaden hängen. Über Olgastraße und Wächterstaffel (sechs intakte Kacheln und eine zerstörte) gelangen wir in die die Altstadt und weiter bis hin zum Rathaus. Dort ist nahe der Rathauspassage eine Kachel so weit oben angebracht, dass Ivan Papic auf den darunter befindlichen Stromkasten klettern musste, um sie zu fotografieren.

67 Kacheln hat der Street-Art-Fan bis jetzt in Stuttgart gefunden und feinsäuberlich in einer Liste vermerkt - samt Adresse und Foto. Auf dieser Grundlage lässt sich eine Karte der Harry-Gelb-Kacheln in Stuttgart zeichnen. Jeder Punkt eine Kachel, wenn Sie daraufklicken, öffnet sich ein Bild der jeweiligen Kachel.

So viele Kacheln in einer Stadt. Sind die Künstler Stuttgarter?

Ein Stuttgarter Künstlerduo?

Nirgends hängen mehr Harry-Gelb-Kacheln als in Stuttgart. Kommen sie von hier?

Wie es sich für jemand gehört, der seine Kunst als Geister bezeichnet, sind Harry Gelb nicht ans Telefon zu kriegen. Nein, man komme nicht aus Stuttgart, schreiben die beiden per E-Mail. Aber man habe hier “sehr gute Freunde”.

Einige unserer Leser könnten also wissen, um wen es sich handelt. Wie alt sind die Künstler? “Alt genug, um zu wissen wann ein Pass wirklich Bein war und jung genug, dass mir meine Eltern vom Roten Dany erzählen mussten”, schreiben sie. Übersetzt: Als 1992 nicht der Spielmacher Uwe Bein mit Eintracht Frankfurt deutscher Fußballmeister wurde, sondern Matthias Sammer mit dem VfB Stuttgart, haben Harry Gelb das schon mitbekommen. Als der “Spiegel” 1968 über den damaligen Studentenaktivisten und heutigen Grünen-Politiker Daniel Cohn-Bendit berichtete, haben die Künstler das noch nicht gelesen.

Harry Gelbs hängen vor allem in der Stuttgarter Innenstadt. In der Liststraße sind sie im Zickzack angeordnet, an der Kreuzung Senefelder- / Lerchenstraße im Westen hängen gleich vier Stück, eine an jeder Straßenecke. Oft hängen sie auf Augenhöhe, ab und zu muss man sich bücken, mal nach oben strecken.

Wir fragen die Künstler, ob es ein spezielles Muster gibt, nach dem sie ihre Kacheln in Stuttgart aufhängen. Weil auch diese Antwort per E-Mail kommt, wir die Geister aber trotzdem zum Sprechen bringen wollen, haben wir ein Computerprogramm zu Hilfe genommen. Klicken Sie auf den orangefarbenen Play-Button, um die Antwort zu hören:

Wenn die Kacheln ein Muster ergeben sollen, dann wäre das ohnehin nur noch unvollständig zu erkennen. Mehr als 50 “Geister” sind in Stuttgart schon wieder verschwunden; sie wurden abgeschlagen, zerstört oder geklaut. Einige sind verblasst und es ist nur eine Frage der Zeit, bis weitere Kachelkunst aus dem Stadtbild verschwinden wird.

Das ist schade. Aber es gehört zum Konzept.

Ist das Kunst oder kann das weg?

Nicht mehr lange, und die Harry-Gelb-Kacheln werden wieder aus dem Stadtbild verschwunden sein.

Auch entspannte Flaneure nähmen die Kacheln nicht wahr, berichtet Ivan Papic von seinen endlosen Touren auf der Suche nach dem nächsten Harry Gelb. Aufmerksam würden Passanten oder sogar Anwohner erst, wenn er die Kacheln fotografiere.

Fast alle, denen er die Geschichte der Kacheln auf Nachfrage erzähle, seien dankbar, etwas Neues über ihr Viertel zu erfahren. “Nur einem hat’s nicht gefallen, das war so ein Grantler im Unterhemd”, erinnert sich Papic. Er fotografierte gerade eine recht ramponierte Kachel, als der Grantler fragte: “Haben Sie das da hingemacht?” Papic verneinte und erklärte, er fotografiere gerade eine Kunstwerk. Antwort: “Jeder ist Künstler, aber keiner macht Kunst.”

So kann man das natürlich sehen. Man kann auch Harry Gelb direkt fragen: Was will uns der Künstler damit sagen? Die Antwort kommt wiederum per Mail und wird uns vom Computer vorgelesen. Klicken Sie auf den orangefarbenen Play-Button:

Ob die Kacheln als Kunst gesehen werden, liegt im Auge des Betrachters. Die beiden Künstler betonen, dass ihre Kacheln eine “möglichst große Projektionsfläche” bieten sollen. Jedenfalls sind sie Straßenkunst im ursprünglichsten Sinne: sie hängen im öffentlichen Raum, der Witterung ausgesetzt, sind plötzlich da - und nicht so leicht wieder wegzukriegen.

Was Ivan Papic als Verschönerung des öffentlichen Raums ansieht, ist für Hausbesitzer möglicherweise ein schwer wieder zu entfernendes Ärgernis. Eine mit Zwei-Komponenten-Kleber an einer Hauswand montierte Harry-Gelb-Kachel lässt sich nicht einfach übermalen wie ein Graffito.

Harry Gelb hängen ihre Kacheln, zumindest in Stuttgart, stets im Schutze der Dunkelheit auf. Rein rechtlich gesehen sind die Kacheln Sachbeschädigung. Auch deshalb ist fast jede zweite von ihnen in Stuttgart wieder abmontiert worden. Andererseits: Wie kann man gegen ein quasi weltumspannendes Kunstprojekt sein, dessen Spuren in der Stadt nur mit geschultem Auge zu erkennen sind?

Ist es in Ordnung, die Kacheln abzuschlagen? Wiederum die Antwort von Harry Gelb, vorgetragen von einer Computerstimme. Klicken Sie auf den orangefarbenen Play-Button, um die Antwort vorgelesen zu bekommen:

Man kann es auch so sehen, dass bislang die Mehrheit der Hausbesitzer die Kacheln hängen lässt. Das Stadtmuseum Stuttgart, das kommendes Jahr im Wilhelmspalais erstmals seine Türen öffnet, hat die dort angebrachte Kachel vor Beginn der Umbauarbeiten geborgen. Gut möglich, dass Nummer 218 im Museum ausgestellt wird und alle anderen überdauert. Denn neben verärgerten Hausbesitzern sind Sonne und Regen die ärgsten Feinde der Kachelkunst. Etliche Harry Gelbs haben sich verfärbt, sind verblichen oder verbleichen gerade. “Viele Kacheln haben keinen UV-Schutzlack”, weiß der Stuttgarter Experte Ivan Papic.

Das findet Papic schlimmer als die Künstler selbst. Bei den als Geister bezeichneten Kacheln gehe es “natürlich um Vergänglichkeit, um das was wir sein wollen, was wir hinterlassen oder eben nicht”, schreibt das Künstlerduo.

Kachel Nummer 72, mit der für Ivan Papic und auch für uns diese Geschichte angefangen hat, ist heute grau, die Farben sind verblasst. “Manchmal putze ich sie”, bekennt der Street-Art-Liebhaber. Mindestens eine Kachel, das haben ihm Harry Gelb gesteckt, fehlt auf seiner Liste. Ob sie überhaupt noch hängt, wissen nicht einmal die Künstler selbst.

Text: Jan Georg Plavec

Bilder: Lichtgut, Ivan Papic

Geisterhafte Kachelkunst in Stuttgart
  1. Section 1
  2. Siehst du eine, siehst du alle
  3. Ein Stuttgarter Künstlerduo?
  4. Ist das Kunst oder kann das weg?