Insel ohne Hoffnung

Auf Lesbos – einst ein beliebtes Touristenziel – drängen sich Tausende von gestrandeten Flüchtlingen

Eric Kempson hat ein ausgeklügeltes System. Weiß für Babys, Blau für Jungs, Grün für Männer, Mauve für Frauen, Pink für Mädchen. Mehr als mannshoch stapeln sich die farbigen Plastikkisten mit Kleidern im Hof seines kleinen Hauses im äußersten Norden der griechischen Insel Lesbos. „Wenn ein Boot kommt, geht alles sehr schnell, wir müssen dann alles griffbereit haben“, sagt Kempson.

Die Boote kommen fast jede Nacht, überladen mit Flüchtlingen. Eric Kempson und seine Frau Philippa laden dann einige der bunten Kisten auf ihren Lieferwagen und fahren an den Strand, um die verzweifelten Menschen zu versorgen. „Jedes Mal spielen sich unglaubliche Szenen ab“, erzählt Kempson. „Die Menschen brechen zusammen vor Glück, vor Erschöpfung, vor Kälte, vor Durst, vor Hunger.“

Wenn der Brite erzählt, scheint er noch immer nicht wirklich begreifen zu können, was sich da abspielt, direkt vor seinem Haus am Strand. Dass er nun ein kleines Rädchen ist in dem großen Getriebe der Weltpolitik. Als sich der Mann aus London  vor 16 Jahren mit seiner Frau und der kleinen Tochter auf Lesbos niederließ, schien er sein ganz persönliches Paradies gefunden zu haben. „Wir haben uns während eines Urlaubs in diese wunderbare Insel verliebt“, erinnert er sich. Die Entscheidung, England zu verlassen, fiel nicht schwer, auf Lesbos konnten sich er und seine Frau Philippa ganz ihrer Arbeit als Maler, Bildhauer und Kunsthandwerker widmen. Die Geschäfte liefen gut, die Arbeiten verkauften sie an  Touristen.

Doch Eric Kempsons Blick auf die Welt hat sich verändert. Wenn der Künstler nun am Strand vor seinem Haus steht, sieht er nicht mehr nur die Natur, die Farben des Meeres. Wenn er nach Norden blickt, fixiert er mit zusammengekniffenen Augen die türkische Küste. „Es sind maximal sieben oder acht Kilometer von hier“, sagt er. Mit einem Fernglas könne man an klaren Tagen sehen, wie die Schlepper ihre Boote mit Menschen beladen.

Wo viele der Flüchtlinge anlanden sehen Sie in der folgenden Bilderstrecke. Bitte klicken Sie auf den rechten Pfeil.

„Flüchtlinge sind an dieser Seite der Insel immer angekommen“, erklärt der Künstler. „Aber in den vergangenen Jahren wurden es immer mehr, zuletzt waren es Zehntausende.“ Seit Beginn des Kriegs in Syrien hätten auch nicht mehr nur junge Männer den Weg über das Meer gewagt, sondern auch alte Menschen und Frauen mit ihren kleinen Kindern.

Mit ihnen nahm auch das Leben von Eric Kempson und seiner Familie eine dramatische Wendung. „Wir konnten doch nicht einfach wegsehen, wir mussten doch helfen, wir sind doch Menschen, wie all die Flüchtlinge auch“, sagt seine Frau Philippa. Sie begannen, an den Strand zu fahren, wenn wieder einmal ein überfülltes Boot strandete. „Wir haben ihnen Tee gegeben, Decken und manchmal unsere eigenen Kleider.“ Längst ist die Familie Teil eines privat organisierten Netzwerks von Helfern, ohne das die Versorgung der Flüchtlinge zusammenbrechen würde.

Anfangs hatten die Kempsons noch gehofft, dass dieses tausendfache Leid eine Welle der Solidarität in Europa auslösen würde. „Es gibt viele Menschen, die helfen, auch hier in der Gegend“, sagt der 60-Jährige, zögert und beginnt dann eine lange Aufzählung des Versagens: der Vereinten Nationen, der Europäische Union,  der offiziellen Hilfsorganisationen, des griechischen Staats, der Inselverwaltung und auch vieler Bürger der kleinen Stadt Mithimna, zu der dieser Küstenteil gehört.

Kempson: „Wenn wir in die Stadt fahren, werden die Reifen unseres Autos zerstochen. Viele Bewohner glauben, dass wir mit unserer Hilfe nur noch mehr Flüchtlinge anziehen würden.“ Wegen der ständigen Anfeindungen haben sie inzwischen ihre 16-jährige Tochter nach England zurückgeschickt.

Bis zu einem gewissen Grad scheint der Brite die Reaktion der Einheimischen verstehen zu können. Die Menschen auf Lesbos leben vom Tourismus, doch seit der Flüchtlingskrise sind die Übernachtungszahlen um über die Hälfte eingebrochen. Irritierender für ihn ist allerdings die Tatenlosigkeit der offiziellen Stellen. Auch als die Boote in Massen im Norden von Lesbos ankamen, seien keine Ärzte, Sanitäter oder andere Helfer geschickt worden, um die Flüchtlinge anständig zu versorgen.

Inzwischen seien zwar einige Hilfsorganisationen präsent, die könnten aber wenig ausrichten. „Es ist eine Schande“, fährt es aus Philippa Kempson heraus. „Die Menschen kommen hier an, doch niemand nimmt sie in Empfang, es gibt kein Wasser, keine Toiletten, kein Essen, keine Unterkunft.“ Im Gegenteil: Die Flüchtlinge würden sogar noch weiter gedemütigt. Da sie als illegale Immigranten gelten, müssen die Verzweifelten sich erst im Hotspot in Moria registrieren lassen, um Hilfe zu bekommen. Die Meldestelle aber liegt jenseits der Berge, im Süden der Insel, etwa 60 Kilometer vom Strand der Kempsons entfernt. „Wenn ich diese armen Teufel mit meinem Auto dorthin fahre, komme ich mit dem Gesetz in Konflikt“, erklärt Eric Kempson fassungslos, schließlich sei er in diesem Fall eine Art Schlepper. Das heißt: Die erschöpften Flüchtlinge müssen die bergige Strecke zu Fuß zurücklegen.

In Moria erwartet die Menschen dann allerdings nicht die Lösung ihrer Probleme, sondern die zur Realität gewordene Hoffnungslosigkeit. Das Lager zählt seit Jahren zu den größten Problemen der Flüchtlingskrise in Griechenland. Das ehemalige Militärcamp ist mit rund 4000 Menschen hoffnungslos überbelegt. Die Menschen leben auch im Winter in leichten Sommerzelten, wenn es regnet, stehen viele Behausungen unter Wasser. Zuletzt sind fünf junge Männer erstickt, weil sie bei Wintereinbruch versuchten, ihr Zelt mit einem defekten Ofen zu heizen. Journalisten ist inzwischen der Zutritt zum Lager streng verboten.

„Die Lebensbedingungen in Moria sind sehr schlecht“, erzählt der junge Syrer Yassir. „Noch schlimmer aber ist die Hoffnungslosigkeit.“ Zusammengesunken sitzt er auf dem Stuhl in einem der provisorischen Cafés vor dem Haupteingang des Lagers. Dann erzählt er eine Geschichte, wie sie auf das Leben der meisten der jungen Männer in Moria passt. Er lebe schon seit acht Monaten auf der Insel, doch sein Asylantrag sei noch nicht einmal bearbeitet. „Meine Familie hat für meine Flucht alles Geld gesammelt, ich muss es nach Europa schaffen, ich muss ihnen helfen“, sagt der 17-Jährige und ihm steigen langsam die Tränen in die Augen. „Die Unsicherheit, wie lange ihr Verfahren noch dauert, und was mit ihnen geschieht, bereitet den Flüchtlingen großen Stress”, sagt Achilleas Tzemos von Ärzte ohne Grenzen, der in Moria arbeitet, dessen Organisation sich vor einem Jahr allerdings aus Protest gegen den EU-Flüchtlingsdeal aus Moria zurückgezogen hat und heute ein eigenes Krankenhaus am Rande von Mytilini betreibt.

Aber die Behörden haben reagiert: als dann während der kältesten Winterzeit im Januar die Zelte unter den Schneemassen zusammenbrachen und drei Flüchtlinge im Lager starben – vermutlich an Kohlenmonoxidvergiftung – war auch den griechischen Behörden klar, dass die Zustände nicht länger tragbar sind. Heute sind die meisten Zelte durch Container ersetzt, es gibt Heizungen und ausreichend Warmwasser. Männer und Frauen sind stärker getrennt, sodass es zu weniger sexuellen Übergriffen kommt.

Anders als in den ersten Wochen dürfen die Flüchtlinge mittlerweile immerhin das Lager verlassen und sich frei auf der Insel bewegen. Betten und Verpflegung gibt es für sie aber nur in Moria und einem weiteren, deutlich kleineren Lager.

„Die Lebensumstände haben sich verbessert”, bestätigt Tzemos. Die Betreuung sei besser organisiert, die Helfer untereinander besser koordiniert, doch an dem quälenden Warten, der Untätigkeit und der Perspektivlosigkeit ändere dies nichts. „Die Unsicherheit über die Zukunft bleibt”, sagt Tzemos.

In anderen Teilen der Insel engagieren sich meist junge Menschen für die Flüchtlinge. In der Nähe des Flughafens wohnen in einem stillgelegten Sommercamp für Kinder namens Pikpa rund 80 Flüchtlinge. In den schwierigsten Monaten wurden dort allerdings bis zu 600 Menschen untergebracht.

Auf Lesbos sitzen derzeit fast 6000 Flüchtlinge fest, in ganz Griechenland sind es fast 60. 000 – und es werden täglich mehr. Alle warten darauf, dass ihre Asylanträge bearbeitet werden. Die griechische Seite verweist darauf, dass die EU-Länder eingewilligt hätten, ein zweijähriges Programm zur Verlegung der Flüchtlinge aufzubauen. Im Fall von Griechenland sollen knapp 65. 000 Flüchtlinge auf andere Mitgliedstaaten verteilt werden. Aber das Projekt stockt, weil sich manche Staaten nicht an die Abmachungen halten. Amnesty International hat Ende 2016 öffentlich gemacht, dass Länder wie Österreich, Ungarn oder Polen nicht eine einzige Person aus dem Programm aufgenommen haben.

Die Flüchtlinge - und auch die Helfer - fühlen sich in dieser Situation von allen Seiten im Stich gelassen. Nur selten kommt es vor, dass sich die Menschen zu Wort melden und eine Demonstration gegen die Zustände organisieren.  

Als Schandmal der ausbleibenden Hilfe wird von allen Seiten ständig Moria genannt. Immer wieder ist Eric Kempson in Moria gewesen, hat die unhaltbaren Zustände fotografiert und über Youtube öffentlich gemacht: zu wenige und zudem verstopfte Toiletten, völlig verdreckte Waschräume, kaputte Duschen, überall Abfall. Doch auf einen Aufschrei der Entrüstung wartet er bis heute vergebens. Die Reaktion von offizieller Seite:  Man warf ihn aus dem Lager, das er nicht mehr betreten darf.

All das hat in Eric Kempson einen bösen Verdacht wachsen lassen: Die Flüchtlinge werden mit Absicht schlecht behandelt. „Die Kalkulation ist einfach“, sagt er, „wenn sie nach Hause melden, dass es ihnen in Europa schlecht geht, dann kommen weniger.“ Aber diese Rechnung gehe nicht auf, ist der Brite überzeugt. Er sei übrigens kein weltfremder Sozialromantiker. Natürlich könne Europa nicht alle Flüchtlinge aufnehmen. Der einzige Weg sei, den Menschen vor Ort zu helfen, damit sie ihre Heimat erst gar nicht verlassen müssten. Denn eine Lektion hat Eric Kempson am Strand von Lesbos gelernt: Mauern seien kein Hindernis, denn die Verzweiflung dieser Menschen kennt keine Grenzen.

Hier die Recherche-Reise noch einmal im Kurzdurchlauf in acht Tweets:

Sie haben Interesse an weiteren Multimedia-Reportagen? Dann besuchen Sie uns unter www.stuttgarter-zeitung.de/storytelling oder www.stuttgarter-nachrichten.de/storytelling

Insel ohne Hoffnung
  1. Section 1