Oase aus Beton
Die Stuttgarter Stadtbibliothek wird fünf Jahre alt.
Kapitel 1: Der Kubus
Was steckt in dem Gebäude?
Bis heute ist die neue Stadtbibliothek mit ihrer schlichten Hülle umstritten, die schärfsten Kritiker nennen sie “Stammheim II” oder “Bücherknast”. Die Stuttgarter Zeitung schwärmte bei der Eröffnung am 24. Oktober 2011 hingegen von den “ästhetischen Qualitäten, dem Raumerlebnis und der Ausstrahlung des neuen Baus”.
Nüchtern betrachtet hat der koreanische Architekt Eun Young Yi den neun oberirdischen Etagen eine Rasterfassade in den Abmessungen 44 mal 44 mal 40 Meter vorgehängt. Die neun mal neun Öffnungen pro Seite haben die identische Größe, identische Balkongitter und stecken in identischen Feldern aus identischen quadratischen Glasbausteinen. Ein Minimalismus von extremer Strenge.
Der Ankömmling tritt in einen vier Stockwerke hohen, leeren Raum, “das Herz” genannt. Darüber erstreckt sich über fünf Geschosse der trichterförmige Galeriesaal bis zur stützenlosen Decke. Der Saal ist nicht nur von der Dimension her ein großer Wurf: Eun Young Yi schaffte es, die Architektur der französischen Nationalbibliothek in die Moderne zu übersetzen.
Yis imposante Kreation hat den praktischen Nutzen, dass die Orientierung in den mehr oder weniger gleich strukturierten Stockwerken leicht fällt. Jede Abteilung - von der Musik im ersten Obergeschoss bis zur Kunst im achten Obergeschoss - hat seine eigene Ebene.
Die Stuttgarter Stadtbibliothek steckt voller Besonderheiten. Im Windfang des Osteingangs öffnet bei Nacht ein Medienschrank seine winzigen Tore, um Schlaflose mit Lesestoff zu versorgen. Man kann sich aus 34 Fächern des Automaten frei bedienen. Von Kafka über Mankell bis Goscinny ist fast für jeden was dabei. Auch Ratgeber, Spielfilm-DVDs und Hörspiel-CDs sind stets im Angebot, schließlich mag nicht jeder mit einem Roman die bleierne Zeit bis zum Morgen überbrücken.
Wenn die Pforten werktags um 9 Uhr öffnen, kann sich jeder mit einem gültigen Leseausweis in der Graphothek ein Kunstwerk ausleihen und damit sein privates Heim aufpeppen. Gleich nebenan betreibt die Caritas das Café LesBar. Nachmittags treffen sich hier Großstadtmenschen, trinken Latte Macchiato und genießen den Blick über den Talkessel.
Der Kubus am Mailänder Platz hat wenig mit einer traditionellen Bücherei gemein. Die Stadtbibliothek ist zwar noch immer ein Ort zur Bildung, aber auch zum Austausch und zur Unterhaltung. Immer weniger Leute kommen wegen der Bücher, immer mehr nutzen sie als Arbeitsplatz oder Freizeitspaß.
Fast alles läuft digital. Menschenscheue können das komplette Bibliotheksangebot nutzen, ohne ein einziges Mal mit einer Mitarbeiterin zu sprechen. Die computergesteuerten Maschinen befreien das hundertköpfige Personal von Routinearbeiten, wodurch es sich auf jene Besucher konzentrieren kann, die Hilfe benötigen.
Das technische Highlight ist eine Beförderungsanlage, welche in Wägelchen auf einer rund 200 Meter langen Schiene pro Stunde 800 Medien über sämtliche Stockwerke transportiert. Vor 1970 Geborene kennen das System aus der Kinderserie “Lemmi und die Schmöker”. Der Fortschritt hat sich in den vergangenen vier Jahrzehnten auch auf dieses Verkehrsmittel ausgewirkt: Das Stuttgarter System sortiert zurückgegebene Medien automatisch vor, legt beispielsweise vorgemerkte Bücher sofort beiseite. Die Waggons fahren die Wände senkrecht hinauf und die Decke entlang. Eine Million Euro hat diese spezielle Achterbahn gekostet, was angesichts der 79 Millionen, die der Bau der Stadtbibliothek verschlungen hat, ein überschaubarer Betrag ist.
Dass das Haus, wie es in der Konzeption heißt, “die technische Plattform für neue gestalterische Wege bietet”, springt dem Besucher gleich ins Auge, sobald er durch einen der vier Eingänge schreitet. Im Erdgeschoss sind 16 Großbildschirme installiert, auf denen sich Videokünstler austoben.
Zum Fünf-Jahres-Jubiläum hat die Ludwigsburgerin Katharina Wibmer sich als bücherblätternde Suchende in einer auf den Kopf gestellten Stadtbibliothek selbst inszeniert. Ihre Absicht sei, “alltägliche Sehgewohnheiten zu brechen”, sagt die 49-Jährige: “Es entsteht eine surreale Bildwelt in einer Mischung aus Ironie und Trauma. Der Betrachter wird in das Spiel mit Wahrnehmung und Wirklichkeit mit einbezogen.”
Kapitel 2: Die Besucher
Wer nutzt die Bibliothek?
Fast anderthalb Millionen Menschen haben im vergangenen Jahr den Würfel des Wissens betreten. Selbst die größten Optimisten hätten bei der Eröffnung der neuen Zentralbibliothek nicht gedacht, dass der graue Vierkant hinter dem Stuttgarter Hauptbahnhof eine geradezu magische Anziehungskraft entwickeln könnte. Wer tummelt sich in dem öffentlichen Gebäude?
Früher waren Bibliotheken Orte der Ruhe und Horte des Bildungsbürgertums. Das Internet zwang sie, sich zu verändern: Angesichts neuer Informationsmöglichkeiten verlor das klassische Medienangebot an Bedeutung, man musste zusätzliche Dienstleistungen offerieren, um ein breiteres Publikum zu gewinnen.
Die neue Stuttgarter Stadtbibliothek bietet ihren Besuchern neben einer halben Million Büchern und anderen Medien beispielsweise W-Lan im gesamten Haus und 120 Laptops. Besonders Jugendliche, Rentner und Migranten schätzen dieses Angebot, weil sie kostenlos mit der ganzen Welt in Kontakt treten können.
In der Kinderabteilung erinnert die Geräuschkulisse manchmal an ein Ikea-Bällebad. Auf hellblauen Polstermöbeln und Matratzen fläzen sich die kleinen Racker herum, während ihre Eltern mangels ausreichender Sitzgelegenheiten im Stehen die wichtigsten Neuigkeiten austauschen („Der Sarah-Marie fallen schon die Zähne aus“). Jede Hautfarbe ist zu sehen, ein breites Spektrum an Sprachen zu hören, und vermutlich ist auch fast jede Glaubensgemeinschaft vertreten. Die Bibliothek nimmt jeden Menschen ab anderthalb Jahren ins Visier, für die jüngste Zielgruppe bietet sie die Veranstaltungsreihe „Windelflitzer“ an.
Die Stadtbibliothek ist ein Treffpunkt zum Austausch, zur Unterhaltung - und noch immer zur Bildung. Das Haus vermittelt ein Gefühl von “home-away-from-home”, eines zweiten Zuhauses. Es ist ein Platz zwischen öffentlichem und privatem Dasein - ganz ohne Konsumzwang. Die Bücher rücken zunehmend in den Hintergrund, die Besucher in den Vordergrund.
Der trichterförmige Galeriesaal zählt zu den beliebtesten Fotomotiven der Stadt, allein 46 Hochzeitspaare haben sich im vergangenen Jahr in dieser Kulisse ablichten lassen. Diese Zahl ist in der Statistik ebenso erfasst wie 1 422622 Besucher, 14841 Neuanmeldungen oder 2 683 431 Entleihungen. 313 Gruppen wurden durch das Haus geführt, sie kamen unter anderem aus Ägypten, China und dem Libanon. Die neue Stadtbibliothek fehlt in keinem Stuttgart-Reiseführer, sie ist eine Touristenattraktion wie der Fernsehturm, der Schlossplatz oder die Staatsgalerie.
Kapitel 3: Das Umfeld
Wie entwickelt sich das Europaviertel?
Die Geschichte des ersten Hauses am Mailänder Platz begann an einem Sommertag 1997 im Büro von Hannelore Jouly. Von ihrem Dienstherrn, Oberbürgermeister Wolfgang Schuster, hatte die damalige Direktorin der Stuttgarter Stadtbibliothek die Fleißaufgabe bekommen, gemeinsam mit ihrer Stellvertreterin Ingrid Bussmann einen Neubau zu konzipieren, der dem Europaviertel hinterm Hauptbahnhof kulturelles Großstadtleben einhauchen soll. Bei selbst gebackenem Pflaumenkuchen erdachten die beiden Fachfrauen ein Gebäude mit Flanierwegen, Ruhezonen und einer Dachterrasse. “Die Bibliothek ist Begegnungsraum zwischen Generationen und Kulturen”, schrieben Jouly und Bussmann in ihrer Vorlage für den Gemeinderat.
Der Standort war lange umstritten. Das Bildungsbürgertum drohte, keinen Fuß in ein öffentliches Gebäude zu setzen, welches auf dem sogenannten A-1-Gelände liegt, jenem ehemaligen Schienenareal, das für viele als Beispiel für eine verfehlte, investorengesteuerte Stadtplanung gilt. Und Nostalgiker sehnten sich nach der kleinen, guten, alten Zentralbibliothek im Wilhelmspalais zurück.
Die amtierende Direktorin sitzt im siebten Stockwerk mit Blick auf die Jahrhundertbaustelle Stuttgart 21. „Vor der Eröffnung hatte auch ich befürchtet, dass dieses Gebäude zu abgelegen ist“, sagt Christine Brunner. „Dass es vom ersten Tag an derart gut angenommen wurde, empfinde ich noch immer als Wunder.“ Brunner, 60, war bis vor drei Jahren Stellvertreterin der Konzept-Mitentwicklerin Ingrid Bussmann, die kontroversen Diskussionen über den Standort und die Architektur des Gebäudes erlebte sie unmittelbar mit. Erst durch die Eröffnung des Einkaufszentrums Milaneo in direkter Nachbarschaft sei vielen Leuten klar geworden, warum die Stadtbibliothek in eine strenge Hülle gepackt wurde. „Sie ist ein Gegenentwurf zu dem bunten, kommerziellen Treiben im Umfeld“, sagt Brunner. „Sie ist ein Rückzugsort.“
Mittlerweile gibt der Erfolg jenen recht, die den Schritt in eine radikale Moderne befürwortet haben. Sogar das junge Publikum, welches sich nebenan bei Primark mit billigen Textilien eindeckt, hat die Stadtbibliothek als Treffpunkt für sich entdeckt. Manch älteren Büchereinutzer stört es, wenn neben ihm Teenager abhängen, die auf ihren Smartphones rumwischen und sich Neuigkeiten erzählen: „Der Hassan hat voll krasse Fotos gesnappt.“ Doch dieser Generationenkonflikt ist bloß ein weiteres Indiz dafür, dass es der Stadtbibliothek gelungen ist, sich allen zu öffnen.
Eine Multimedia-Reportage von Stuttgarter Zeitung und Stuttgarter Nachrichten
Konzeption und Umsetzung: Frank Buchmeier
Mitarbeit: Achim Zweygarth (Fotos), Christian Frommeld (Programmierung), Hannes Opel & Tobias Jansen (Videoschnitt)
„Tisserand-AmbienceBackground.wav“ by tamakari http://www.freesound.org/people/tamakari/sounds/105043/
is licensed under a Creative commons license: http://creativecommons.org/licenses/by/3.0/
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