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    Traurige Geschöpfe

    Wie andere Haustiere auch werden Reptilien von ihren Besitzern oft abgegeben. Sie landen dann in der Auffangstation, einer Art Tierheim für Reptilien - wenn sie Glück haben. Doch es werden zu viele Reptilien abgegeben.

    Wenn Reptilien im Tierheim landen

    Ein Besuch in Markus Baurs Auffangstation

    Walter hätte es nicht besser treffen können. Ein riesiges Becken voll mit warmem Wasser und ein angenehm feucht-warmes Raumklima. Dazu die beste Betreuung: drei Vollzeittierärzte, sechs Tierpfleger, ein Biologe, drei Azubis, zwei Doktoranden und jede Menge ehrenamtliche Helfer. Kein Vergleich zu seinem vorherigen Zuhause in Ravensburg. Die ehemalige Zirkusfamilie, bei der der Alligator vor sich hin vegetierte, hatte ihn in einer Art Badewanne untergebracht. Weil er von dort aus jederzeit hätte ausbrechen können, alarmierte die Polizei die Experten aus München, die Walter zu sich holten. Die Auffangstation für Reptilien hat einen exzellenten Ruf. Aus ganz Deutschland kommen Tiere hierher.

    Die Auffangstation hat ihren Ursprung in der Klinik für Reptilien der tierärztlichen Fakultät der Ludwig Maximilians Universität. Die Studenten, zu denen einst auch der heutige Stationsleiter Markus Baur gehörte, kümmerten sich ab und zu um Reptilien, die ihrem Halter zu groß geworden waren, um Fundtiere oder verletzte heimische Exoten.

    Doch als eines Tages plötzlich 150 beschlagnahmte Geckos, Warane, Kaimane und Pythons untergebracht werden mussten, wurde aus der Päppelstube nach und nach ein erstaunlich professionelles Provisorium, das inzwischen rund 1200 Tiere im Jahr aufnimmt und - wenn es geht - in gute Hände vermittelt.

    Markus Baur und seine Mitstreiter benötigen pro Jahr mindestens eine Million Euro. Ein Drittel davon kommt vom Freistaat Bayern, den Rest muss die Station, die inzwischen von einem Verein betrieben wird, selbst erwirtschaften. Außer von Spenden und Einnahmen bei Führungen stammt das Geld hauptsächlich von Behörden oder Kommunen, die die Kosten erstatten, wenn sie ein beschlagnahmtes Tier nach München schicken. Und für Fachgutachten gibt es ebenfalls Geld. Als im vergangenen März zum Beispiel der so genannte “Spinnenmann von Ebersberg” wegen Tierquälerei vor Gericht stand, trat Markus Baur als Zeuge auf. Er und seine Kollegen hatten den Zustand der Wohnung des Spinnenmanns dokumentiert, nachdem sie entdeckt worden war: Dort waren mehr als 500 exotische Tiere unter haarsträubenden Zuständen gehalten worden. (Der Mann wurde schließlich zu einer Haftstrafe von 22 Monaten verurteilt.)

    So gut die Adresse der Auffangstation  - München-Schwabing - klingt, so ungut sieht es im Inneren des Gebäudes aus. Die Terrarien, die in den Kellerräumen des Universitätsgebäudes untergebracht sind, stapeln sich bis unter die Decke. Das ist auch für die Mitarbeiter dort nicht ungefährlich.

    Dass das Reptiliendomizil nicht schon längst aus allen Nähten geplatzt ist, liegt nur daran, dass der Verein in viel Eigenleistung zwei Außenstationen einrichten konnte. Doch lange geht das nicht mehr gut: Die Auffangstation muss ihre baufällige Unterkunft räumen. Zwar gibt es ein Grundstück zum Ausweichen, aber das nutzt nichts, weil das Geld für einen Neubau fehlt. Nach einer heftigen Debatte beschloss der bayrische Landtag im April immerhin, weiter nach einer Lösung zu suchen. Zum einen sollen die geschätzten Baukosten von 25 Millionen abgespeckt werden, zum anderen sollen zusätzliche Finanziers gefunden werden. Weitere Bundesländer zum Beispiel, die von der Station profitieren.

    So wie Baden-Württemberg. Wenn es nach der hiesigen Landestierschutzbeauftragten ginge, würde sie liebend gerne mit der Auffangstation zusammenarbeiten. „Es wäre klug, auf den vorhandenen Ressourcen aufzubauen“, sagt Cornelie Jäger. Der baden-württembergische Bedarf sei vorhanden. Doch einen Plan, wie eine solche Kooperation genau aussehen könnte, hat das Land noch nicht.  

    Dass die Bayern explizit an Baden-Württemberg denken, liegt daran, dass es bereits eine Kooperation mit der Station gab. Vor zwei Jahren hat das Land dem Verein einmalig 100.000 Euro überwiesen, damit er seine Aufnahmekapazitäten in der Dependance in München-Riem erweitern kann. Im Gegenzug sollten Tiere aus Baden-Württemberg bevorzugt aufgenommen werden. So kam der Alligator Walter nach München. Inzwischen lebt er allerdings in Brandenburg. Ein privater Halter hat ihn - nach gründlicher Überprüfung durch die Münchner Experten - übernommen.

    Die Probleme

    Worunter Reptilien leiden

    Es ist schwierig, ein scharfes Bild vom Exotenwesen in Deutschland zu zeichnen. Verlässliche Zahlen gibt es nicht. Das statistische Bundesamt kann lediglich sagen, dass jährlich bis zu 850.000 Reptilien nach Deutschland importiert werden. Doch das sind nur die Tiere, die dem Zoll gemeldet werden. Die Zahl sagt nichts darüber aus, ob alle gemeldeten Reptilien in Deutschland bleiben, und sie enthält keine Angaben über Tiere, von denen der Zoll nichts weiß, und auch keine über jene, die in Deutschland gezüchtet werden.

    Es gibt schlimme Bilder von viel zu vielen Reptilien in viel zu kleinen Unterkünften. Und Aufnahmen, die Tiere zeigen, die auf dem Transport zum Händler verendet sind (undercover aufgenommen von der Tierrechtsorganisation Peta). Es gibt besorgniserregende Zahlen über Tiere, die wegen einer falschen Haltung eingegangen sind, und Zahlen über Salmonellen-Infektionen bei Kindern, die von Reptilien verursacht waren. Allerdings finden sich auch ebenso viele Widerreden und Gegenbeweise. Sie werden vorgebracht von gewissenhaften Reptilienhaltern, im Jargon Terrarianer genannt, die sich regelmäßig verunglimpft fühlen.

    Möglicherweise - da sind sich hingegen alle einig - gäbe es manche dieser Probleme nicht, wenn es nicht so einfach wäre, die Tiere zu beschaffen. Man kann einen Gecko im Baumarkt kaufen, ein Chamäleon auf einer Tierbörse und wenn es sein muss auch eine Netzpython im Internet. Weil die Beschaffung so leicht fällt, und die Kosten oftmals nicht hoch sind, fällt es vielen Besitzern dann auch leichter, sich von ihren Tieren zu trennen, falls sich die Haltung als komplizierter erweist als gedacht. Die Zeitungen sind voll mit Meldungen, die auf überforderte Herrchen oder Frauchen schließen lassen. Im Schwarzwald-Baar-Kreis wurden im November zwei tote Königspythons und eine Kornnatter gefunden. Offenbar hat sie ihr Herrchen in der Kälte ausgesetzt, wo sie erfroren. Im September tauchte aus rätselhaftem Grund in der Motorhaube eines Autos in Weil am Rhein eine Boa constrictor auf, und versetzte dem Reparateur einen riesigen Schreck. Ein paar Tage zuvor hatten Passanten auf einem Spielplatz in Kehl eine herrenlose Kornnatter entdeckt, die von der Feuerwehr eingefangen werden musste. In Künzelsau schwamm im Frühjahr ein ganzes Terrarium im Kocher.

    Theoretisch könnten die lästig gewordenen Haustiere in einem Tierheim abgegeben werden. Oder gleich in der Auffangstation für Reptilien. Doch das kostet, zumindest wird um eine Spende gebeten. In München zum Beispiel werden die Tiere erst einmal gründlich untersucht, was etwa 100 Euro macht. Hinzu kommt das Geld für Futter, Wasser, Energie und die Pflege. Ein mittelgroßer Tigerpython zum Beispiel verursacht Kosten von bis zu 500 Euro im Jahr.Viele der untergebrachten Tiere bleiben monatelang auf der Station, entweder weil es so viele ihrer Art gibt und sie deshalb nicht sonderlich gefragt sind, oder weil sie schwer vermittelbar sind. Wer kann schon mal eben einen Alligator aufnehmen?

    Nicht zu vergessen, die Kosten, die anfallen, wenn ein Tier operiert werden muss. Die vielen tausend Schmuckschildkröten, die jedes Jahr überall in Deutschland ausgesetzt werden, verschlucken regelmäßig Angelhaken.

    Außerdem müssten die ehemaligen Besitzer erklären, warum sie sich von ihrem Tier trennen. Manche, das hat Markus Baur gelernt, erfinden dafür tragische Schicksalsschläge, die das Behalten der Schildkröten, Nattern oder Bartagamen angeblich unmöglich machten. Wiederum manche sparen sich das lieber gleich. Bei einem Tierheim wurde im Jahr 2011 zum Beispiel ein Eimer an die Türklinke gehängt, in dem sich ein Brillenkaiman befand.

    Auch Markus Baur ist schon öfter morgens zur Arbeit gekommen und hat vor der Tür einen abgestellten Karton vorgefunden, in dem ein Reptil kauerte. “Hier lernt man die Abgründe der Menschheit kennen”, sagt Baur, in dessen Station seit Neuestem auch exotische Säugetiere aufgenommen werden. Diese Art der Haustierhaltung, auch das hat Markus Baur gelernt, ist ein neuer Trend.

    Die Universität Leipzig versucht momentan übrigens, ein genaueres Bild über die Situation der exotischen Haustiere in Deutschland zu erstellen. Mit einer groß angelegten, anonymen Online-Befragung im Auftrag des Bundeslandwirtschaftsministerium wollen die Forscher herausfinden, wie viele Tiere welcher Art wo, wie und in welchem Zustand leben. Vielleicht hilft das ja was.

    Ein Ausweg

    Was exotischen Haustieren helfen würde

    Der Tierfachmarkt Kölle-Zoo und die Garten-Center-Gruppe Dehner haben in diesem Herbst angekündigt, den Verkauf von Reptilien mittelfristig einzustellen. Vielen Tierschützern und Politikern reicht das nicht. Sie fordern ein grundsätzliches Verbot. Doch das würde dann auch jene Reptilienhalter treffen, die gewissenhaft mit ihren Tieren umgehen. Und tatsächlich ist es ja kein Ding der Unmöglichkeit, Reptilien ein gutes Zuhause zu geben. Markus Baur etwa teilt seine Wohnung mit amerikanischen Dosenschildkröten, und der Direktor der Stuttgarter Wilhelma hält Schlangen.

    Außerdem kann man hinterfragen, ob ein Verbot den erwünschten Effekt bringen würde. Vor einigen Monaten übergab ein Ehepaar aus München der Auffangstation zwei Speikobras. Der Sohn, der sich bis dahin um die Tiere gekümmert hatte, war bei einem Unfall ums Leben gekommen. Erst von Markus Baur erfuhren die Eltern, dass ihr Junge die extrem giftigen Schlangen gar nicht hätte halten dürfen. Giftschlangen sind in Bayern nämlich verboten.

    Dasselbe gilt für den zentralamerikanischen Rindenskorpion, der vorigen Herbst aus seinem Terrarium in Unterschleißheim entkommen ist und schließlich in der Auffangstation landete. Und für die Schnappschildkröte Suàrez, die zwei Sommer lang die Anrainer eines fränkischen Weihers in Angst und Schrecken versetzt hat, ehe sie in diesem Juni endlich dingfest gemacht und nach München verfrachtet werden konnte.

    Wer ein Tier halten möchte, schafft das also, auch wenn es verboten ist. Was also tun?

    Am kommenden Wochenende ist die Auffangstation in Sindelfingen. Dort findet von Freitag bis Sonntag die Messe „Fisch  &  Reptil“ statt. Die Auffangstation hat dort einen kostenlosen Stand, an dem sie tut, was sie neben Reptilienretten am liebsten tut: informieren, informieren und informieren! Wenn die potenziellen Exotenkäufer alles wissen, was es über ihren Exoten zu wissen gibt, dann sinkt vielleicht die Zahl der Überforderungstiere.

    Dieses Kalkül steckt auch hinter der Kooperation mit einer Münchner Fressnapf-Filiale: Der Markt hat den Verkauf von Reptilien eingestellt, in den geräumten Terrarien wohnen jetzt Kornnattern, Echsen und Bartagame aus der Auffangstation, wo Interessenten auch beraten werden. Mit nach Hause nehmen dürfen sie ein Tier nur, wenn sich vor Markus Baur und seinen Kollegen als fachkundig erwiesen und eine passende Unterkunft nachgewiesen haben. „Wissen schützt Tiere“, sagt Baur.

    Eigentlich ist es wie immer und überall: Wer sich ernsthaft ein exotisches Haustier zulegen möchte, kauft es bei einem seriösen Züchter, der bei Fragen Rede und Antwort steht. Oder, nicht zu vergessen, holt eins aus der Auffangstation.

    Im Sommer hat die Große Koalition im Bundestag beschlossen, dass sie sich einig ist, dass sich beim Handel mit exotischen Tieren etwas verbessern muss. Salopp zusammengefasst sollen sich Händler und Käufer durch Sachkunde auszeichnen und Tierbörsen, in deren Umfeld gerne illegal Reptilien die Besitzer wechseln, besser kontrolliert werden.

    Ob die Wunschvorstellungen der Politiker irgendwann einmal zu einem Gesetz werden, hängt auch vom Ergebnis der Studie der Uni Leipzig ab, die momentan erforscht, wie viele Tiere welcher Art wo, wie und in welchem Zustand leben.


    Eine Multimedia-Reportage von Stuttgarter Zeitung und Stuttgarter Nachrichten

    Konzeption und Umsetzung: Verena Mayer und Tobias Jansen (Videos)

    Weitere Multimedia-Geschichten finden Sie unter

    www.stuttgarter-zeitung.de/storytelling


    Traurige Geschöpfe
    1. Wenn Reptilien im Tierheim landen
    2. Die Probleme
    3. Ein Ausweg
    4. Section 4